Dienstag, 1. Januar 2019

China in deinen Händen


Neujahrsmittag, und absolute Ruhe. Es ist so still, als würde die Welt eine kleine Wiedergutmachung für gestern anbieten. Und es sind überhaupt keine Nachknaller zu hören. Gewiß, es ist heute nacht etwas naß gewesen, aber daran liegt es nicht. Ich war heute morgen joggen, und das ist am Neujahrsmorgen ein Slalom durch die pyrotechnischen Hinterlassenschaften der letzten Nacht.

Tatsächlich gibt es kaum noch Böller. Den Hauptanteil der Böllerleistung liegt heutzutage bei Mehrfach-Batterien, die man einmal anzündet und dann 48, 96 oder 100.000 Knallraketen in die Luft feuern. Das sieht aus wie eine Stalinorgel und klingt auch so. In Berlin werden sie am Silvestertag ab mittags gezündet, weil der Berlin in lufttechnischen Angelegenheiten lieber ein bißchen zu überpünktlich ist als gar ein wenig zu spät.

Ganz woanders und lange her: als Kinder sind wir am Neujahrsmorgen durch die Straßen, um fehlgezündete Chinakracher aufzusammeln und den größten Teil auch sofort wegzuballern. Falls es zwischendurch geregnet hatte, mußte man sie allerdings erst auf der Heizung trocknen. Reiche Beute für unser Böllerräumkommando wäre eigentlich der „Bau“ gewesen, der einzige Sozialbau in der Gegend, vor dem mit Abstand am meisten geböllert wurde, aber die Baukinder waren auf Zack und hatten die Fehlzündungen schon abgeräumt, und vor den Baukindern hatten wir alle Angst. - China Böller D hatte man eigentlich nie. Mein Vetter erzählte grausige Geschichten, was Leuten im leichtsinnigen Umgang mit China Böllern D schon so alles passiert war, und meistens fehlten nachher in diesen Geschichten den Protagonisten ein oder mehrere Körperteile. Außerdem hatten China Böller D eine andere Zündschnur, eine Art Docht, der deutlich zuverlässiger war als bei den kleineren Böllern, was sie unempfindlicher gegen Fehlzündungen machte und damit uninteressant am Neujahrsmorgen.


China Böller C mochte ich nicht besonders, sie waren genau so lang wie D, nur viel dünner. Ich hörte auch keinen akustischen Vorteil zu China Böller D, nur waren sie teurer, also ein klarer Fall von Knallbetrug. Die fingerlangen China Böller A hingegen waren unser Hauptbetätigungsfeld. Sie waren laut, hatten eine friemelige Zündschnur und waren so massenhaft verbreitet, daß man sie jeden Neujahrsmorgen finden konnte. Oder gar – das war dann der Jackpot – ein vergessenes ungeöffnetes Päckchen in rotem Seidenpapier. Im Sandkasten erzeugten sie schon einen kleinen Krater, aber man konnte sie noch so gerade in der Hand halten, ohne zu einer Geschichte meines Vetters zu werden. Zumal man bei Fehlzündungen oft nur einen halben Zentimeter Zündschnur hatte. Aber das reichte. China Böller C waren sozusagen unsere Achtachter. Unterhalb China Böller A gab es dann nur noch Zisemännchen, das waren die ganz kleinen Böller, die man aus einer Matte herausfriemeln mußte und mit denen man nicht mal Mädchen erschrecken konnte.

Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, dass wir mal eine funktionsfähige Rakete gefunden haben. Doch, einmal. Tatsächlich war noch ein kleines Stück Docht daran. Es war auch ein richtig fette Rakete, ein echtes Superding. Wir hatten alle möglichen Ideen, wohin man damit schießen könnte, und verwarfen alle, weil sie viel zu verboten waren. Und nachhause  nehmen wollten wir sie auch nicht, da sie im Gegensatz zu China Böllern schlecht im Schreibtisch zu verstecken war. Schließlich liehen wir uns eine Kupferberg Gold-Flasche aus einer Garageneinfahrt aus und zündeten die Rakete nahe der katholischen Kirche. Sie zog befehlsgemäß in den Himmel und explodierte. Vollkommen unspektakulär mit einigen grünen und weißen Funken. Das hatten wir uns ganz anders vorgestellt. Ich wollte auch unbedingt beobachten, wie der Raketenstock wieder herunterkommt, aber auch das hatte nicht geklappt.
Es gibt einfach Angelegenheiten, für die man unbedingt die Nacht und das Dunkel braucht, dachte ich mir auf dem Rückweg. Ich sollte recht behalten.

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