Neujahrsmittag, und
absolute Ruhe. Es ist so still, als würde die Welt eine kleine Wiedergutmachung
für gestern anbieten. Und es sind überhaupt keine Nachknaller zu hören. Gewiß,
es ist heute nacht etwas naß gewesen, aber daran liegt es nicht. Ich war heute
morgen joggen, und das ist am Neujahrsmorgen ein Slalom durch die
pyrotechnischen Hinterlassenschaften der letzten Nacht.
Tatsächlich gibt es
kaum noch Böller. Den Hauptanteil der Böllerleistung liegt heutzutage bei
Mehrfach-Batterien, die man einmal anzündet und dann 48, 96 oder 100.000
Knallraketen in die Luft feuern. Das sieht aus wie eine Stalinorgel und klingt
auch so. In Berlin werden sie am Silvestertag ab mittags gezündet, weil der
Berlin in lufttechnischen Angelegenheiten lieber ein bißchen zu überpünktlich
ist als gar ein wenig zu spät.
Ganz woanders und lange
her: als Kinder sind wir am Neujahrsmorgen durch die Straßen, um fehlgezündete
Chinakracher aufzusammeln und den größten Teil auch sofort wegzuballern. Falls
es zwischendurch geregnet hatte, mußte man sie allerdings erst auf der Heizung
trocknen. Reiche Beute für unser Böllerräumkommando wäre eigentlich der „Bau“
gewesen, der einzige Sozialbau in der Gegend, vor dem mit Abstand am meisten
geböllert wurde, aber die Baukinder waren auf Zack und hatten die Fehlzündungen
schon abgeräumt, und vor den Baukindern hatten wir alle Angst. - China Böller D
hatte man eigentlich nie. Mein Vetter erzählte grausige Geschichten, was Leuten
im leichtsinnigen Umgang mit China Böllern D schon so alles passiert war, und
meistens fehlten nachher in diesen Geschichten den Protagonisten ein oder
mehrere Körperteile. Außerdem hatten China Böller D eine andere Zündschnur,
eine Art Docht, der deutlich zuverlässiger war als bei den kleineren Böllern,
was sie unempfindlicher gegen Fehlzündungen machte und damit uninteressant am
Neujahrsmorgen.
China Böller C mochte
ich nicht besonders, sie waren genau so lang wie D, nur viel dünner. Ich hörte
auch keinen akustischen Vorteil zu China Böller D, nur waren sie teurer, also
ein klarer Fall von Knallbetrug. Die fingerlangen China Böller A hingegen waren
unser Hauptbetätigungsfeld. Sie waren laut, hatten eine friemelige Zündschnur
und waren so massenhaft verbreitet, daß man sie jeden Neujahrsmorgen finden
konnte. Oder gar – das war dann der Jackpot – ein vergessenes ungeöffnetes
Päckchen in rotem Seidenpapier. Im Sandkasten erzeugten sie schon einen kleinen
Krater, aber man konnte sie noch so gerade in der Hand halten, ohne zu einer
Geschichte meines Vetters zu werden. Zumal man bei Fehlzündungen oft nur einen
halben Zentimeter Zündschnur hatte. Aber das reichte. China Böller C waren
sozusagen unsere Achtachter. Unterhalb China Böller A gab es dann nur noch
Zisemännchen, das waren die ganz kleinen Böller, die man aus einer Matte
herausfriemeln mußte und mit denen man nicht mal Mädchen erschrecken konnte.
Ich kann mich gar nicht
mehr erinnern, dass wir mal eine funktionsfähige Rakete gefunden haben. Doch,
einmal. Tatsächlich war noch ein kleines Stück Docht daran. Es war auch ein
richtig fette Rakete, ein echtes Superding. Wir hatten alle möglichen Ideen,
wohin man damit schießen könnte, und verwarfen alle, weil sie viel zu verboten
waren. Und nachhause nehmen wollten wir
sie auch nicht, da sie im Gegensatz zu China Böllern schlecht im Schreibtisch
zu verstecken war. Schließlich liehen wir uns eine Kupferberg Gold-Flasche aus
einer Garageneinfahrt aus und zündeten die Rakete nahe der katholischen Kirche.
Sie zog befehlsgemäß in den Himmel und explodierte. Vollkommen unspektakulär
mit einigen grünen und weißen Funken. Das hatten wir uns ganz anders
vorgestellt. Ich wollte auch unbedingt beobachten, wie der Raketenstock wieder
herunterkommt, aber auch das hatte nicht geklappt.
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